Per Flugzeug nach Venedig hat einen besonderen Reiz: Denn der Flughafen Marco Polo ist auch ans Wasser angebunden: Einen kurzen Spaziergang entfernt wartet an der Anlegestelle ein Boot auf uns. Gemeinsam mit einem dutzend weiterer Reisenden wird es uns nach Venedig bringen. Die Alilaguna Motoscafi transportieren ihre Passagiere für 25 Euro (Online Tarif hin und zurück) in 50 Minuten nach Venedig, Murano oder Lido.
Ein eigenes Wassertaxi mit schicken Ledersitzen mag schneller und stilvoller sein, hat aber auch seinen Preis: Die 25 minütige Fahrt im schicken Riva Holzboot mit Ledersitzen belasten die Reisekasse mit 120 Euro. Lohnt sich also erst bei Reisegruppen oder Großfamilien ab sechs Personen aufwärts. Und Achtung vor den Schlitzohren: Amerikanische und japanische Touristen sollen in Vor-Corona-Zeiten schon bis zu 150 Euro PRO PERSON gezahlt haben. Hat man eines der sündhaft teuren Luxushotels gebucht, ist die standesgemäße Abholung dagegen inklusive.
Unserem Stand gemäß dümpeln wir also im Alilaguna Wasseromnibus langsam auf Venedig zu, alle tragen Maske. Wir hören ein wenig englisch, französisch, deutsch – aber italienisch dominiert. Dann endlich ragt sie aus dem Meer: Die Serenissima – nach dem offiziellen Staatstitel ‚Die allerdurchlauchteste Republik des Heiligen Markus‘.
Es dürfte ein Vierteljahrhundert seit dem letzten Besuch vergangen sein, doch eine Stadt wie Venedig altert nicht. Dafür aber ist sie jetzt befreit von der Last der heiß gelaufenen globalen Tourismusströme. Ein unscheinbares Virus hat sie versiegen lassen. Wir haben die nächsten drei Tage Venedig quasi für uns – so wie es in unserer Jugend mal war. Wahrscheinlich sind im Augenblick sogar noch weniger Menschen in der Stadt als damals.
Wir legen an der Piazza San Marco an. Donnerstag zur Mittagszeit. Gerade mal ein Dutzend Menschen verteilt sich auf dem sonst so bevölkerten Platz. Der Campanile weist zum aufreissenden Himmel und der Dogenpalast präsentiert sich im besten Licht. Grandios in Szene gesetzter Reichtum eines Stadtstaates, der lange den Welthandel dominiert hatte. Denn Venedig war das Tor zum Orient und nach Afrika. Unser privat geführtes Hotel mit Dachterasse ist keine fünf Minuten Fußmarsch von hier entfernt. Auch das ein Bonus in Zeiten der Pandemie: Zimmer sind leicht zu bekommen und das für vernünftige Preise. Neben einem Upgrade erhalten wir einen frisch vor unseren Augen desinfizierten Zimmerschlüssel. Wir werden die nächsten Tage noch sehr oft erleben, wie ernst unsere Gastgeber die Hygienemaßnahmen nehmen.
Wir wollen aber keine Zeit verlieren, die Wiederentdeckung Venedigs wartet auf uns! Vorbei an geschlossenen Gucci, Fendi und YSL-Läden sowie beschäftigungslos herumsitzende Gondoliere erreichen wir die Piazza San Marco mit der gleichnamigen Basilica. Esther interessiert sich natürlich sofort für die vier Pferde über dem Eingang: Diebesgut aus Alexandria, gestohlen vor fast 1.200 Jahren. Die nähere Betrachtung muss allerdings noch ein wenig warten: Die Basilica ist geschlossen und wir haben online bereits Karten für den Dogenpalast gebucht.
Wir können uns nicht erinnern, ihn jemals besichtigt zu haben. Für gewöhnlich muss man ein erfahrener und rücksichtsloser Schlangenbändiger sein oder aber bis zu drei Stunden anstehen. Aber – hachje – auch jetzt warten etliche Menschen auf Einlass. Tatsächlich ist der Einlass aber genau getaktet und pünktlich um 14 Uhr kommt Bewegung in die Reihen. Zwischenzeitlich haben wir ein nettes Paar aus Norddeutschland kennengelernt, das sich auch kurzentschlossen auf den Weg nach Venedig gemacht hat – allerdings im Auto. Wir verabreden uns für später auf ein Gläschen Aperol Spritz.
Bevor wir den Dogenpalast betreten dürfen, wird bei jedem von uns Fieber gemessen. Glücklicherweise gibt es Infrarotthermometer! Nach bestandenem Temperaturtest sind wir im einstigen Machtzentrum der Handelsrepublik Venedig. Seit dem neunten (!) Jahrhundert logierten hier die Dogen sowie die Regierungs- und Justizorgane der Seerepublik Venedig. Erstaunlich, dass das Venezianische Volk (ursprünglich) über die Geschicke bzw. über den Dogen entschieden, während die Nachbarn im Norden sich gerade in das Westfranken- und das Ostfrankenreich aufspalteten, die künftigen „Keimzellen“ Frankreichs und Deutschlands. Während also bei uns noch bis ins 17. Jahrhundert die Leibeigenschaft existierte, bauten sich die Venezianer dank ihres unermesslichen Reichtums ihr kleines, aber feines Reich, sogar mit einer unabhängigen Justiz.
Während wir also durch die geschichtsgetränkte Kulisse schweifen (ja, jede Menge Platz für soziale Distanz aber trotzdem Maskenpflicht) blicken von den Wänden die Räte, Richter und Dogen aus vielen Jahrhunderten auf uns hinab. Klar – außer als mythische Figuren spielen Frauen dabei keine Rolle. Natürlich wissen wir nicht, ob der Doge daheim unter dem Pantoffel seiner Frau stand, aber hier wird eindrucksvoll klar, warum sich die Geschlechtergleichberechtigung nach über tausend Jahren Patriarchat nicht von heute auf morgen umsetzen lässt. Alle Rituale der Macht sind seit Generationen deutlich sichtbar auf Männer zugeschnitten. Auf den vielen Portraits keine Dogin, Rätin oder Richterin weit und breit. Bestenfalls mal eine Maria oder eine Venus unter den vielen eindrucksvollen Fresken.
Übrigens hatte Venedig Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest heimgesucht. Von 120.000 Einwohnern überlebten gerade mal 70.000. Aus aktuellem Anlass natürlich ein spannendes Thema. Denn in Venedig kennt man sich mit Epidemien aus.
Wenn es in Europa zu jener Zeit eine Pforte für die Seuchen der Welt gibt, dann ist es meist die Hafenstadt in der Lagune mit ihren Schwärmen von Schiffen und dem Heer der Händler und Reisenden. Im frühen 17. Jahrhundert war Venedig – nach 20 Pestausbrüchen aus Erfahrung schlau –bestens auf eine neue Pestwelle vorbereitet: Es gab strenge Hygienevorschriften, eine Gesundheitsbehörde, die ankommende Schiffe kontrollierte und die erste Quarantänestation der Welt, das Lazzaretto Nuovo, drei Kilometer nordöstlich von Venedig. Es gibt auch einen Wächter am Lido, der anhand einer täglich aktualisierten Liste der Seuchengebiete die Reisenden und die Ladung der einlaufenden Schiffe kontrolliert. Findet er Pestkranke oder Verdachtsfälle, schickt er sie ins Lazzaretto Vecchio. Die scheinbar Gesunden werden nackt ausgezogen, mit Essig gewaschen und mit neuen Kleidern versehen. Dann schickt man sie für 40 Tage ins Lazzaretto Nuovo. Daher der Begriff Quarantäne – von Quaranta, vierzig (und wir jammern schon über zwei Wochen).
Zum Schluss führt uns der Weg noch durch die Kerker. Die Wege zwischen Gericht und Knast war kurz. Und dazwischen liegt eine der berühmtesten Brücken der Stadt: Die Seufzerbrücke.
Hier konnten die Gefangenen durch die schmalen Ritzen noch einen letzten Blick hinaus in die Freiheit werfen und einen Seufzer ausstoßen, bevor sie für lange Zeit in ihre dunklen, modrigen Zellen gesperrt wurden.
Einige Graffitis sind, in Stein geritzt, erhalten geblieben. Viele beteuerten darin der Nachwelt ihre Unschuld.
So schön und interessant der Dogenpalast mit seinen Frescos, Schnitzereien, vor allem aber seinen Vistas ist: Mehrere Stunden hätten wir dafür sicher nicht anstehen wollen.