Es stellte sich heraus, dass die Entscheidung, die Nacht in einer Datscha zu verbringen anstatt im Zelt, die beste Idee überhaupt war. Nicht nur regnete es die ganze Nacht über in Strömen, sondern es regnete auch den gesamten Morgen hindurch weiter. Es regnete so stark, dass Inom eine Sequenz von sich im Regen filmte und auf Instagram teilte. Allein die Vorstellung, wie unsere Ausrüstung im Zelt nass wird, einschließlich unserer Schlafsäcke, und dieses nasse Bündel packen zu müssen, dann stundenlang zu reiten während es weiterhin in Strömen regnet, war wirklich nicht sehr verlockend.
Und selbst wenn wir gewollt hätten – die starken Regenfälle hatten die Lehmpfade, auf denen wir gestern geritten waren, in Schlammrutschen verwandelt. Zu gefährlich für Pferd und Reiter oder zumindest kein Spaß mehr. Also entschieden wir uns stattdessen für einen entspannten Morgen vor dem Riesenbildschirm auf dem wir uns Koʻpkari, den usbekischen Nationalsport ansahen. Koʻpkari wird nur während der kälteren Jahreszeit im späten Herbst und frühen Winter (Oktober bis Dezember) gespielt und ist hier so bedeutsam und beliebt wie bei uns Fußball. Es ist ein abgefahrenes Spektakel. Beispiele finden sich hier, hier und hier.
Zwischen hundert und bis zu eintausend Reiter (nur Männer dürfen mitmachen) auf Hengsten versammeln sich alle auf einem riesigen Feld mit einem weiß umringten Kreis.
Eine geschlachtete und enthauptete Ziege wird mit Salz gefüllt, um genau 70 kg zu wiegen, und irgendwo auf dem Feld abgesetzt. Auf ein Kommando stürzen sich alle Reiter auf die Ziege, um sie aufzuheben und einmal im Kreis um das Feld herum zu tragen, bevor sie versuchen, sie in den weißen umringten Kreis abzuwerfen. Ein Reiter schnappt sich den Kadaver, und 999 andere versuchen, ihm diesen wegzunehmen.
Es folgt eine unwirkliche Szenerie von sich aufbäumenden Pferden, Pferden, die mit Peitschen geschlagen werden, ein Chaotischer Haufen, der sich solange dreht, bis es irgendein Reiter schafft, die Ziege im Kreis abzulegen, nachdem er den Körper der Ziege unter seinem Knie festgeklemmt und am Bein festhaltend gegen die Meute verteidigt hat.
Sobald ein Reiter mit der Ziege entkommt, beginnt eine wilde Pferderaserei und Jagd, bei der die Ziege manchmal auseinandergerissen wird. Es gibt eine sehr angesehene Gruppe von koʻpkari-Reitern, die Profis sind, ähnlich vielleicht den Rodeo-Cowboys in den USA. Man muss verrückt sein, Verletzungen sind zu erwarten, aber der Respekt der Nation ist ihnen sicher. In Deutschland wäre dieses Spiel natürlich sofort verboten. Es gibt nur wenige Regeln, und die betreffen eher das, was getan werden muss, damit ein Tor zählt, als Regeln, was auf dem Pferderücken zu tun oder zu lassen ist. Das Schlagen eines Pferdes ist in Ordnung (halal), ebenso wie das Ziehen an einem anderen Zügel. Aber der Reiter darf nicht geschalgen werden. Das ist haram (nicht erlaubt). Aber mit Schubsen, Stoßen anderer Form brutaler Gewalt muss gerechnet werden.
Die Teilnehmer sind allesamt sehr robuste, kräftige junge Männer auf muskulösen kleinen Hengsten, die einerseits stark genug sind, um 190 kg (120 für den Reiter und 70 für die Ziege) zu tragen, und andererseits cool genug sind, um nicht in Panik zu geraten, wenn sie in einem Meer von Pferden eingeklemmt sind, die sich so eng zusammen bewegen und drängen. Aber es muss auch sehr schnell sein, sonst werden die anderen Reiter aufholen und versuchen, die Ziege aus den Händen des Reiters und unter seinem Knie zu reißen.
Ein Spiel kann zwischen 20 Minuten und einer Stunde dauern. Und es gibt mehrere Spiele am Tag. Zuschauer umringen das Feld in Massen und die Preise sind oft sehr wertvoll. Sie reichen von einer Vielzahl von Tieren (Kamelen, Rindern, Pferden, Schafen) bis hin zu Autos, Elektronik und natürlich Bargeld. koʻpkari-Pferde werden sehr verehrt, aber nicht verwöhnt. Sie werden vier Monaten auf die koʻpkari-Saison vorbereitet. Besonderes Futter, spezielles Training und zwischendrin meist im Dunklen gehalten. Ein Konzept, das uns wirklich fremd ist.
Nachdem wir einige koʻpkari vom sicheren Sofa aus beobachtet hatten, packten wir unsere Sachen zusammen und fuhren mit dem Auto zurück nach Taschkent.
Auf dem Weg machten wir einen Zwischenstopp am Charvak-See, einem großen Stausee mit Damm, der auch als beliebter Erholungsort für Stadtbewohner dient, die saubere Luft und klaren Bergblick in die zwei angrenzenden Länder suchen.
Der Wasserstand war ziemlich niedrig, und wir sahen mehrere von Unternehmen betriebene Ferienanlagen, Überbleibsel aus sowjetischen Zeiten. Mitarbeiter können quasi auf Unternehmenskosten 1-2 Wochen im Jahr im Betriebseigenen All-Inclusive-Appartementhotel übernachten.
Die Rückfahrt nach Taschkent dauerte weitere zwei Stunden und führte an einigen ungewöhnlichen ‘Sehenswürdigkeiten’ vorbei. Reiter auf Eseln, die unerwartet die Autobahn überquerten. Vieh und andere Nutztiere auf wackeligen Anhängern, die von alten Ladas oder Moskwitschs gezogen wurden, die Chris noch aus der früheren Tschechoslowakei kannte.
Wir kamen gegen 14 Uhr in Taschkent an und waren ziemlich hungrig. Wir beschlossen, ein spätes Mittagessen mit dem Besuch des größten Marktes von Taschkent, dem Chorsu-Basaar, zu verbinden. Hunderte von kleinen Ständen, die in Abschnitten zusammengefasst sind, verteilen sich über eine riesige Fläche.
In einer Ecke sahen wir Kleidung, in einer anderen die Haushaltswaren. Wir steuerten direkt auf den Straßenimbissbereich zu, und köstlicher Duft von offenem Grillfeuer umhüllte uns. Usbekistan ist wirklich nichts für Vegetarier. Usbeken sind Fleischesser, und davon gibt es hier reichlich.
Neben dem Nationalgericht Plov gibt es alle Arten von Kebabs, Schaschliks, Fleischbällchen, Schafsköpfen, usw. Chris und Inom entschieden sich für Schaschlikspieße mit sauer eingelegten Zwiebeln.
Esther wählte eine Spezialität, und zwar eine der seltenen (genauer gesagt vielleicht sogar die einzige) vegetarischen Optionen: Eine Art großes Dim Sum gefüllt mit Kartoffeln und bedeckt mit einer Art Tomatensauce, darauf Zwiebeln und Fenchel, gennant Hanum. Lange Schlangen bildeten sich um den Stand einer Dame, die dieses Speise anbot. Es schmeckt wie eine übergroße, weiche Ravioli mit Tomatensauce.
Auf dem Markt lässt sich vermutlich alles finden, was man braucht (oder auch nicht braucht). Die Auswahl ist wirklich überwältigend. Einige Produkte waren uns vertraut, während uns andere uns ein klein wenig eigenartig erschienen oder genauer gesagt: eigenartige Namen trugen. Die Auswahl reichte von Bavaria über Varcagi bis zu Ador. Optische Ähnlichkeiten zu deutlich bekannteren Marken nicht ausgeschlossen.
Wir erkundeten ausserdem die Bäckereiabteilung, kauften frischgebackenes, warmes Brot für eine leichte Abendmahlzeit, schlenderten unter der Hauptkuppel, um uns die Fleisch- und Trockenobstabteilungen anzusehen. Wir kauften mehrere Sorten Trockenfrüchte für die Reise sowie frische Gurken, Paprika und Tomaten. Man kann immer erst probieren, bevor man kauft, was wir natürlich auch ausgiebig taten. Wir kauften geröstete Sesamsamen in der Gewürzabteilung sowie eine wunderbar aromatische Früchtetee-Mischung. Mit unserem Abendessen und einigen weiteren Dingen bepackt, machten wir uns auf den Rückweg zu unserer Pension um dort eine heiße Dusche zu nehmen. Dann setzten wir uns in den gemütlichen Innenhof um unseren Blog auf den neuesten Stand zu bringen.
Nach einem leichten Abendessen mit unseren frischen (köstlichen!) Tomaten, Paprika und Gurken sowie Brot fielen wir wie zwei Steine ins Bett.
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