Sofern ich nicht spontan zum Islam konvertiere bleibt mir zwar der Zutritt zum Felsendom und zur Al-Aksa Moschee (zwei verschieden Gebäude) verwehrt, aber auch so ist das Gelände wo Solomons Tempel vor etwa 3.000 (!) Jahren stand sehr beeindruckend. Zum Glück bin ich kein frommer Jude, denn auch dann dürfte ich nicht auf das Gelände – ich könnte versehentlich das Allerheiligste entweihen. Aber ich muss früh aufstehen, um das beste Licht zu erwischen. Mein Zeitfenster um den Tempelberg zu betreten liegt zwischen sieben und zehn Uhr morgens.
Wer in der arabischen Altstadt wohnt muss keinen Wecker stellen. Diese Aufgabe übernimmt eine Heerschar an Muezzinen, wenn das ‚Fajr‘, das Morgengebet ansteht. Echohaft wiederholt hallt der Ruf von den Türmen durch die Gassen – kriecht in mein Ohr und dringt dann tief bis ins dahin friedlich schlummernde Hirn. Widerstand zwecklos. Auch ich bete – dass der morgendliche Aufruf bald vorüber ist und ich wieder einschlafen kann. Doch Allah ist groß und ich bin wach. Es ist 5 Uhr 14, mit plus einer Stunde Zeitverschiebung also eigentlich mitten in der Nacht.
Meine Unterkunft ist immer noch Geheimtipp genug, dass ich kurzfristig ein Zimmer bekommen habe. Mit Blick auf den Felsendom. Es ist kein Hotel im eigentlichen Sinne, sondern das älteste Gästehaus der Stadt: das Österreichische Pilger-Hospiz. Das klingt jetzt nicht sonderlich sexy, ist aber tatsächlich eine kleine Ruhe-Oase inmitten der Altstadt. Die Zimmer sind einfach, aber der Strudl im Café legendär. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Österreich sehr, sehr weit weg ist. Aber es gibt Meinl-Café zum Frühstück. Leider aber erst ab 7 Uhr.
Noch leicht geschockt von der unchristlichen Uhrzeit (yes! Pun! Intended!) taumle ich also aus meiner Oase auf die Via Dolorosa. Die Gassen sind menschenleer. Beten wahrscheinlich noch. Nachts ab zehn und morgens bis acht gefällt mir die Altstadt am besten. Das orangene Licht der Lampen lässt die Kulisse unwirklich erscheinen, alle Geschäfte sind fest verriegelt und es wälzen sich keine Massen durch die Gassen. Die Altstadt wirkt mystisch, geheimnisvoll, aus der Zeit gefallen. Die Katzen herrschen jetzt über die Gassen.
Der Felsendom verfügt über mehrere Zugänge, aber als nicht-muslim muss ich zunächst zur ha-kotel ha-ma’arawi, wörtlich ‚die westliche Mauer‘ bei uns besser als Klagemauer bekannt. Und damit liegen wir Deutschen eigentlich falsch. Um das zu erklären muss ich leider kurz geschichtlich ausholen.
Die Westmauer war zu Herodes Zeiten nicht mehr und nicht weniger als die gigantische Umfassungsmauer des Aerals auf dem der Herodianische Tempel ausgebaut wurde (Ursprünglich von Salomon errichtet, mehrfach zerstört). Herodes der Große, das war der mit dem mutmaßlichen Kindermord in Bethlehem, der im Jahre vier vor Jesus vermeintlicher Geburt starb (es gibt auch Theorien, dass Jesus im gleichen Jahr geboren wurde in dem Herodes starb) . 1/3 der Mauer ist unter der Erde und 1/3 wurde abgetragen.
Die Mauer war vor 2.000 Jahren also sage und schreibe 54 Meter hoch (ich lass Euch schnell rechnen wie hoch sie heute ist). Aber wie gesagt, sie war kein Heiligtum per se. Doch dann, 70 n. Chr., wurde der fantastische Tempel der auf dem Plateau, an der 54 Meter hohen Mauer stand von der römischen Besatzungsmacht zerstört. Ein paar Jahrhunderte später, immer noch ohne Tempel auf dem Allerheiligsten, beten die jüdischen Gläubigen diese Mauer an, da sie sich hier Gott am nächsten wähnen.
Und die Gebete der Männer und Frauen (beten getrennt) vor der Mauer mit ihren wippenden Bewegungen und jammernden Tonfall können auf Außenstehende durchaus wie eine Klage über den verloreneren Tempel wirken.
Womit wir endlich beim Felsendom wären. Denn damit ich auf das Plateau kann muss ich zunächst zur Westmauer. Nur dort habe ich Zugang zur Holzrampe, die Marokkanerbrücke, die mich hinaufführt. Also erst durch die Sicherheitsschleuse zur Westmauer. Jeder darf über die drei Zugänge rund um die Uhr das Gelände betreten, gleich ob Inder, Chinese, Europäer, Marokkaner oder Iraner. Der Zugang zur Al-Aksa und zum Felsendom wird für mich erst um sieben Uhr geöffnet. Bis dahin habe ich noch jede Menge Zeit die Gebetsrituale der jüdischen Gläubigen zu studieren.
Mit mir warten vielleicht zehn Besucher auf Einlass und tatsächlich, um punkt sieben Uhr wird die Absperrung geöffnet. Auch hier werden alle Taschen durchleuchtet. Dass der Metalscanner warnend piepst, als ich hindurchschreite, scheint keinen zu interessieren – stattdessen wird der Deutsche nach mir aufgehalten: „Haben Sie etwa ein Buch in Ihrem Rucksack?“ Interessant – man weiß hier also noch, wie gefährlich Bücher sein können. Die israelische Wachfrau nickt den Mann durch, als er nur einen Reiseführer aus der Tasche zieht. Wäre es eine Bibel oder ein Talmud gewesen, hätte die Geschichte ein anderes Ende genommen. Fremde religiöse Symbole und Flaggen sind auf dem Tempelberg nicht erlaubt, nicht-muslimische Gebete oder Rituale strengstens verboten. Heiliges Sperrgebiet sozusagen. Bis heute verteidigt Israel – selbst unter Netanjahu – das eiserne Gesetz, dass der Tempelberg den Muslimen gehört. „Muslims pray on the Temple Mount, non-Muslims visit the Temple Mount“ hatte Verteidigungsminister Moshe Dayan nach der Rückeroberung Jerusalems im Yom-Kippur Krieg 1973 festgeschrieben. Die von den siegreichen Soldaten stolz gehisste Flagge mit dem David-Stern musste von der Spitze des Felsendoms nach vier Stunden wieder eingeholt werden, ein später errichtete kleine Synagoge wurde wieder abgerissen. Seither verwaltet Jordanien das Gelände rund um den Felsendom.
Auf dem Areal dürfen wir uns frei bewegen, nur der Zutritt zum Felsendom und zur Al-Aksa bleibt uns nicht-Muslimen verwehrt.
Technisch gesehen, könnte ich mich zum Islam bekennen. Dazu müsste ich nur die Schahada, das Islam-Bekenntnis mit Überzeugung sprechen. “Asch-haddu an la Ilaha illal-Lah wa asch-haddu anna Muhammadan rasul-lallah” – „Ich bezeuge es gibt nur einen Gott, den einen und einzigen, und ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist“. Da sich eben diese Worte auf Arabisch beim Weckruf der Muezzine in meinen Kopf gebohrt haben würde ich das sogar hinkriegen. Ich zweifle aber, dass die Wächter mir meine Ernsthaftigkeit abnehmen würden. Also lasse ich das weite Gelände auf mich wirken und versuche meinen Ärger im Zaum zu halten, dass sich die Sonne hinter den Wolken versteckt. Soviel zum Besten Licht in der Früh.
Anfangs hatte ich gesagt, dass fromme Juden den Tempelberg nicht betreten dürfen. Das ist so nicht ganz richtig. Für die jüdische Glaubensgemeinschaft ist der Tempelberg das Zentrum, das Herzstück zum jüdischen Leben und die direkte Verbindung zu Gott. Aber Ultra-orthodoxe Juden wie Rabbiner Iddo Veber sagen: die Thora erlaube es Juden heute nicht mehr, den Tempelberg zu betreten. Eigentlich ist es auch Nicht-Juden verboten – aber für die sind wir nicht zuständig soll er noch hinzugefügt haben. Und so tut die (jüdische) israelische Gesellschaft das was sie am liebsten tut: Sie streitet darüber wer Recht hat. Weil es so ein nettes Fun Fact ist, hier ein kleiner Ausschnitt aus der Begründung, warum gläubige Juden den Tempelberg (in der ultra Auslegung) nicht betreten dürfen: „Die Thora hat besondere Reinheitsvorschriften um das Allerheiligste zu betreten. Die Besucher des Tempels sollten sich mit der Asche einer roten (sic!) Kuh reinigen. So steht es im 4. Buch Mose, Kapitel 19.“ Übrigens soll die Kuh mit ihrem Blut und mit ihrem Mist verbrannt werden. Nun ja – das ließe sich vielleicht noch arrangieren. Aber dann kommt da noch ein zweiter, wohl entscheidender Grund dazu: „Da unklar ist, wo der Tempel genau stand, ist nicht auszuschließen, dass jüdische Besucher aus Versehen das Allerheiligste betreten. Das hätte schwerste Strafen zu Folge.“. Nun ja, eigentlich sind alle Menschen die sich um das Stück Land am Mittelmeer streiten schon gestraft genug.
Tatsächlich ist mir eine Gruppe von orthodoxen Juden auf das Gelände gefolgt. Beschützt von israelischen Sicherheitskräften und skeptisch beäugt von einem Mitarbeiter der Waqf, der jordanischen Aufsichtsbehörde für den Tempelberg. Dem Felsendom bleiben sie fern, aber sie verlassen, wie es die Gebote erfordern, den Tempelberg rückwärts (Gott zugewandt) und legen sich, kaum draußen, in den Staub und sprechen liegend ihre Gebete.
Man wird in dieser Stadt ständig Zeuge ungewöhnlicher Rituale. Das macht den Charme und die Seele dieser Stadt aus, die sich nicht unbedingt in Fotos einfangen lässt. Asiaten, die christliche Lieder singend, durch die Gassen ziehen, Menschen die ein Holzkreuz schleppen, Juden die das Shofar blasen, Orthodoxe, die gekleidet sind, als wären sie aus einem polnischen Schtetl aus dem 20. Jahrhundert entsprungen. Es gibt so viele Dinge die verrückt erscheinen, dass es für Extremfälle sogar einen Namen gibt: Das Jerusalem-Symptom. Eine medizinisch anerkannte psychische Störung. Nachzulesen bei Wikipedia.
Also von einem religiösen Wahnsinn in den nächsten: Zur Grabeskirche. Oder Holy Sepulchre, auch Holy Sepulcher (beide Schreibweisen kommen in Jerusalem vor). Die Ostkirche nennt das Gebäude die Auferstehungskirche, die westliche Basilika des heiligen Grabes.
Die Ecclesia Sancti Sepulchri, wie wir Lateiner sagen (Hust, Hust), beherbergt die überlieferte Stelle der Kreuzigung und das Grab Jesu. Allein die Anzahl der verschiedenen Bezeichnungen geben schon eine Ahnung davon, dass hier jede Glaubensgruppe ihr eigenes Süppchen kocht. Um hier nicht noch ausschweifender zu werden fasse ich zusammen: Sechs christliche Konfessionen teilen sich das Gotteshaus. Die Griechisch-Orthodoxen, der Franziskaner Orden für die römisch-katholische Kirche und die Armenische Apostolische Kirche haben die Hauptverwaltung. Die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien und die Kopten bekamen im 19. Jahrhundert ein paar kleinere Schreine zugeteilt. Und die Äthiopische-Orthodoxe Kirche ist so etwas wie ein Hausbesetzer auf dem Dach der Grabeskirche, und haben eine kleine Kapelle (dem Erzengel Gabriel gewidmet) an die Grabeskirche angeflanscht.
Die Äthiopier zu finden ist nicht immer ganz einfach. Am Vorplatz der Kirche ist ganz hinten an der rechten Wand eine kleine Tür. Wenn die offen ist, kommt man dort zu den Äthiopiern. Ansonsten etwas versteckt vom Souq aus, einfach nach der siebten Station von Jesus Leidensweg fragen.
Während die heiligen Hausbesetzer also quasi am Rand leben, müssen die anderen fünf eine Art heilige Wohngemeinschaft führen.
Dass es dabei immer wieder zu Konflikten kommt, die weit darüber hinausgehen wer das Bad putzt und die Kerzenreste wegmacht kann sich jeder vorstellen. Ein Zusammenleben ist kompliziert, wenn jeder überzeugt ist, Gott und der Wahrheit näher zu sein als sein Mitbewohner.
Mancher Streit unter Mönchen wurde ganz unchristlich mit den Fäusten ausgetragen. Deswegen hat der türkische Sultan Osman III. (damals Statthalter Jerusalems) 1757 (1853 erneuert) einige Regeln festgelegt. Während Europa von zwei Weltkriegen heimgesucht wurde, die Osmanen vertrieben und Israel gegründet wurde, Flugzeuge und Internet die Kontinente verbunden haben, blieb hier alles beim Alten.
Dieser Status Quo gilt bis heute. Jede kleinste Veränderung ist umkämpft und die Mönche achten peinlich genau darauf, dass es zu keinem Machtzuwachs der jeweils anderen Gruppe kommt.
Am rechten Fenster etwa steht eine schlichte Holzleiter um die sich viele Legenden ranken. Dieselbe lehnt dort unverrückt seit mindestens 140 Jahren wie auf alten Fotos zu sehen ist. Um an diesem Ort Spiritualität zu erleben muss man auch früh aufstehen. Ich habe gelesen, dass die palästinensische Familie, die über den Schlüssel wacht die Grabeskirche in einer bezaubernden Zeremonie aufschließt. Mönche reichen eine Leiter durch eine kleine Luke in der Holztür, so dass der Schlüsselhalter dann aufschließen kann. Aber fünf Uhr morgens – nein danke, um die Zeit ist noch nicht mal der Muezzin wach.
Um halb neun ist es noch halbwegs ruhig in der Kirche, ganz anders als am Vortag zur Mittagszeit wo sich Heerscharen laut schwatzend durch das Gotteshaus schoben. Doch schon jetzt stehen einige hundert Menschen an der frisch renovierten Ädiqula an.
Der Schrein sieht aus wie eine kleine Kirche innerhalb der Kirche. Innendrin ein Raum in der Größe von drei Telefonzellen (für die jüngeren: kleine, drei Meter hohe, stinkende Kabuffs in denen man telefonieren oder Telefonnummern nachschlagen konnte als es noch keine Handys mit Internet gab). Hier soll das Grab Jesu liegen. Tatsächlich haben jüngst durchgeführte Untersuchungen von Archäologen die Möglichkeit dafür zumindest nicht ausgeschlossen. Das Anbeten von Steinen ist nicht so mein Ding, außerdem war ich schon mal drinnen ohne mich dafür stundenlang in einer Warteschlange einreihen zu müssen. Die Kirche füllt sich – für mich heißt das nix wie raus!
Langsam kippt auch das Wetter. Außerdem ist Jerusalem wie arabisches Gebäck. Sehr süß, aber irgendwann wird es einem zu viel. Darum mache ich mich auf den Weg an das Tote Meer.
- to be continued